Julian Göthes Invasiver EskapismusDie beneidenswerteste Eigenschaft von Zeichentrickfiguren ist ihre Fähigkeit, sich selbst mit einem Bleistiftstrich eine Tür ins Nichts zu zeichnen und dem Unheil zu entkommen. Ihr Eskapismus ist ein fernes, quasi begradigtes Erbe der Kunst der Arabeske; jener ornamentalen Linienführung, in der sich Stoff-und Formkomposition wechselseitig verschlingen, und die so das Gleichgewicht zwischen Rahmung und Inhalt aus den Fugen geraten lässt. Jene geschwungenen Rahmenlinien, von denen William Hogarth behauptete, sie zeigten an, wie das Kunstwerk sich von innen sehe, entlarven die Repräsentation, um sie als Illusion dennoch zu retten. Diese ironisch-illusorische Bannkraft ist in Julian Göthes Zeichnungen und den aus Seilen aufgespannten Kabinetten bis zu dem Punkt formalisiert, da sie ihre Funktion zwar ausstellen, nicht aber mehr erfüllen kann: Seine Werke blicken uns mit maliziöser Neugier von innen heraus durch sich selbst hindurch an. Ihr Ausgangspunkt liegt in einem fast hypnotischen Prozess des Nebenbei-Kritzelns, mehr ein Geisteszustand als eine Praxis, der – so muss man vermuten – kleine Risse in eine andere Realität schlägt. Ist diese andere Welt aber einmal geöffnet, wird sie mit einer bis zur Erbarmungslosigkeit heruntergekühlten Präzision gestaltet, die die ursprüngliche Flüchtigkeit gleichsam einfriert. Das wirft die Frage auf, wovon hier die eigentliche Bedrohung ausgeht: Von den kühlen Phantasmen, die einen heimsuchen, oder von der ornamentalen Phantasie, mit der man sie bannt und verdrängt und doch, wie alles Verdrängte, gleichzeitig anlockt?
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Es ist, als würde, während Göthe über diese Alternative noch lacht, im Hintergrund die Musik des Dr. von Zann erklingen; jenem Violinspieler aus der gleichnamigen Geschichte H.P. Lovecrafts, hinter dessen Mansardenfenster nichts weniger als ein in der Erzählung ebenfalls nur skizziertes, gänzlich namenlos bleibendes Grauen beginnt, dessen kakophonisches Hereinbrechen in die Realität der stumme Musiker mit seinem Geigenspiel bannen möchte, an dessen Unbändigkeit er aber letztlich zugrunde geht. Mit gleicher diabolischer Autorität stellen auch die Räume, die Göthe beschwört, das Konstruierte ihres gezeichneten und schraffierten Inneren selbstbewusst aus. Der ornamentalen Abstraktion setzten sie ihre perspektivis tische Abstraktion mit voller Härte entgegen. Wollte man für den paradoxen Effekt dieses Aufeinanderprallens ein Wort erfinden, man müsste vielleicht von einem invasiven Eskapismus sprechen, bei dem, wie in jeder guten Screwball-Komödie, völlig offenbleibt, wer hier vor wem und vor allem wohin noch fliehen soll. Denn wie in der Eröffnungskamerafahrt von Renoirs Die goldene Karosse ist klar, dass die Räume, die hier entstehen, lediglich Bühnen eines Kammerspiels für weitere Eskapaden ohne wirklichen Ausweg sind. Und wie alles Ausweglose ist dies zugleich tragisch und unendlich komisch.Die eskapistische Kunst der Arabeske wird von Julian Göthe dort aufgenommen, wo sie die dritte Dimension erobert und zum Interieur wird, wie der gewaltige Bühnenvorhang aus The Great Ziegfeld, in dem Außen und Innen nur zwei Seiten desselben gigantischen Stoffes sind. Von dieser Art von Interieur sagte Walter Benjamin einst, dass es einerseits eine Kapsel gegen eine zunehmend feindlichere Welt bildet, anderseits aber das Leben an sich selbst ersticken lässt. Es ist genau dieser Moment, in dem der Eskapismus beginnt, klaustrophobisch zu werden, in dem Julian Göthe sich ihm mit einer Mischung aus sadistischem Voyeurismus und aufrichtiger Bewunderung für das eingekapselte und verquere Leben annimmt und erneut auf seine rettenden Potenziale durchleuchtet. In einer Zeit, die Ironie nicht zu ihren Vorzügen zählen darf und die Handlungsräume durch missverstandene Ernsthaftigkeit zuschüttet statt öffnet, ist das ein kaum zu unterschätzendes, künstlerisches Unterfangen: Der invasive Eskapismus sagt uns nicht, wo wir hinwollen, sondern zeigt die Welt, aus der wir gerne stammen würden. Es ist nur folgerichtig, dass Göthes Skulptur es sich nicht mehr länger nehmen ließ, auch den Außenraum zu erobern und seine Realität infrage zu stellen. Denn wo ihr Antlitz sein müsste, ist wieder nur ein Fenster, und ihre scharfen Kanten und Spitzen feiern den ständigen Kollaps von Fläche und Raum. Irgendwo muss sich dieses Wesen eine Tür gezeichnet haben und von seiner in unsere Welt eingedrungen sein. Gebieterisch, blauschimmernd und kokett lugt es durchs Fenster und macht klar, dass es kein Entkommen gibt. Wir geben uns hin, denn es weiß, wo die Blumen wachsen, die wir auf unser Unglück werfen.Text: Philipp Wüschner